CHEMIEWENDE
Von einer Chemiewende wird seltener gesprochen. Doch unser Alltag ist ohne Chemie kaum denkbar: das geht vom Autositz über Kleidung oder Reinigungsmittel bis zur Zahnpasta. 2017 fand an der Freien Universität Berlin ein
Innovationsmarathon Chemiewende statt (Info der Gesellschaft deutscher Chemiker). Ob Erdöl als Rohstoff zahlloser Produkte der Chemieindustrie durch
Biomasse ersetzt werden kann, untersuchte beispielsweise das Fraunhofer IGB. Wie das Beispiel Biogas zeigt, gibt es aber eine breite Palette an Rohstoffen, die
Biomasse sind.
Das Beispiel Polyurethane zeigt, wie unterschiedlich Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und Ressourceneffizienz verstanden werden. Es zeigt aber auch die Kreativität der Branche.
Polyurethane (Info vom Branchenverband ISOPA) sind in Schuhen, Dämmplatten, Polstern, Klebstoffen, Reifen ... Bayer-Tochter Covestro verwendet teilweise CO2 statt Erdöl, um Polyole herzustellen, in dem Fall als Vorprodukt von PUR-Weichschaumstoff.
Der Konzern wirbt mit einem CO2-Traum. Kritische Chemiker sehen
mehr PR als Innovation und Klimaschutz (chemiewende.de). Und zumindestens in der PUR-Schaumstoffherstellung ist CO2 schon
Treibmittel seit dem FCKW-Verbot (Maschinenbau-Wissen.de).
"Es gibt nur ein System, das CO2 nachhaltig und mit regenerativer Energie in komplexe chemische Stoffe umwandelt: Pflanzen in einer intakten Biosphäre"
... spottet ein
Chemiker und mittelständischer Naturfarben-Unternehmer. Ein anderer Chemiker und mittelsändischer Unternehmer
verkauft konsequent ökologisch produzierte Wasch-, Spül-, Körperpflege- und Reinigungsmittel - auch international. Focus Online berichtete 2017.
Die Branche reagiert schon länger auf den Weckruf. Auch bei den
Polyolen (Info PCC / Firmenwebsite, was das ist). Auf Baumharz basiert Tallöl aus der Papierherstellung, es ist entweder Abfall oder
Grundstoff für Bauschaum und Bodenbelag (MDR). Polyole können
aus Pflanzenöl oder Lignin bestehen (Wikipedia). Es gibt
Recycling-Polyole (DBU). Die Liste der Alternativen für alle möglichen Lebenslagen sprengt den Rahmen. Da ist Kohle aus Grünabfällen, die "fast die gleichen Eigenschaften" hat wie Braunkohle
(Bericht Spiegel Online, 2013). Oxalsäure für Reinigungsmittel
aus Roter Beete (taz, 2014) - die Firma einer Gebäudereiniger-Meisterin liefert auch an Großverbraucher in Deutschland, Österreich oder der Schweiz.
Andere beschäftigt die Frage, ob Recycling tatsächlich umweltschonend ist,
hier Infos der Recyclat-Initiative. Oder: warum sollte man auf und in erdölbasiertem Kunststoff schlafen, wenn es
gesünder geht (Übersicht Produkte und Hersteller auf utopia.de)? Kunststoffe müssen als Dämmstoff zum Brandschutz chemisch behandelt werden. Das vom Mittelmeer oder von der Ostsee angespülte
Seegras ist von sich aus schwer entflammbar (bauen.de) und es bringt weitere, nützliche Eigenschaften mit. Ein internationales Forschungsteam erprobt Bambus und Pilzmycel als Ersatz für Stahl und Beton
(Bioökonomie BW, 2017). Im Gespräch ist tatsächlich auch eine
Bauwende (Factor Y-Magazin, 2017) ...
Es ist umstritten, ob im Labor erzeugte Aromen und Stoffe besser sind als Druck auf die Produzenten auszuüben, damit Erdbeergeschmack wirklich von Erdbeeren kommt und nicht von
Sägespänen und Mikroorganismen (Focus Online). Fleischersatzprodukte gibt es
nicht ohne Gewürze, Aromen und Zusatzstoffe (detektor.fm). Und auch sie können von Recycling-Kunststoffverpackung Mineralölrückstände aufnehmen. Ebenfalls kein einfaches Thema ist, wie weit Wirtschaft, Großverbraucher und Privatverbraucher Tempo und Mengen runterfahren müssen - und wollen.
Noch einmal zu Bayer/Covestro und dem CO2-Traum. Wie beim Herbizid-Wirkstoff Glyphosat werden Hilfsstoffe in der Öffentlichkeit seltener diskutiert. Der Covestro-Sprecher erwähnte Propylenoxid als "Reaktionspartner". Der Stoff zählt zu den
Epoxiden, deren Nebenwirkungen nicht so positiv sind (chemie.de). Im Bau sind Epoxidharze
trotzdem weit verbreitet (Deutsche HandwerksZeitung, 2013). Sie werden außerdem oft als Grundierung von
Bodenbelägen genutzt (raumaustattung.de).
Die Chemie-Industrie hat bisher eine lange Liste von Unfällen, Katastrophen und Zerstörungen verursacht. Minamata, Seveso, Bhopal, Vietnam, und viele andere. Sie soll
"chemical hazards" reduzieren (Übersicht Cornell University, USA). Zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen
listet die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie auf. Deutschland hat viele Gefahren einfach ins Ausland verschoben und lässt sich die Produkte billig liefern.
Etwa aus Ländern wie Bangladesch.
Die teils schwarze, giftige Brühe des Buriganga-Flusses in Dhaka, Bangladesch (dazu ein weiteres Bild und Infos: IRIN, 2009) mit dem Silfra-Wasser zu vergleichen oder zu sagen, was habt ihr da angerichtet und die Ruhr haben die hier doch auch sauber gekriegt, wäre unverhältnismäßig. Bangladesch blieb nicht untätig. Ähnliches gilt für den
Citarum in Indonesien, für den die
indonesische Regierung ein sehr ernst gemeintes, großes Reinigungsprogramm durchzieht - als Reaktion auf einen Dokumentarfilm! (The Jakarta Post, 2018). In beiden Ländern ist die ungefilterte Einleitung von Chemikalien der Textilindustrie bzw. Textil- und Lederindustrie ein Hauptverursacher. Doch beim Gerben von Leder können
ungefährlichere Chrom-Verbindungen verwendet werden, effizientere Verfahren, oder gleich Natur-Gerbstoffe (HR/ARD, 2015). Natürliche
Gerbstoffe können aus vielen Pflanzen gewonnen werden, wie früher (Spektrum der Wissenschaft). Als Ersatz für Tierhäute ist der Zunderschwamm nicht mal alleine, und er enthält darüber hinaus ein Antibiotikum,
Chloramphenicol, wie aus "einem chemischen High-Tech-Labor" (chemieunterricht.de). Weitere Tierhaut-Ersatzstoffe:
Ananas- oder Eukalyptusblätter, Pilze, Kork (utopia.de, verschiedene Hersteller).
Es ist lange her, dass
Mülheim an der Ruhr deutsche Lederhauptstadt war, dass
Elberfeld und Barmen (heute Stadtteile von Wuppertal) bedeutende Textilstandorte waren (Industriekultur NRW). Die einst fischreiche Wupper wurde zum
"schwarzen Fluss" (LANUV NRW). Rhein, Ruhr und Emscher entwickelten sich durch Bergbau, Chemie, Haushalts- und Industrieabwässer zu überlasteten Kloaken.
Ein Artikel der
Bundeszentrale für politische Bildung von 2012 beschreibt die Industriegeschichte der drei Flüsse, vor allem des Rheins. Der Artikel geht außerdem auf Folgen wasserbaulicher Maßnahmen ein. Die aus der Überlastung folgenden Probleme wurden schon erkannt als es größere Umweltschutzbewegungen noch nicht gab. Der
1930 gegründete Wupperverband baute zunächst Klärwerke, führte später biologische Abwasserbehandlung ein, gab bis in die 1960er aufbereitetes Biogas (!) als Kfz-Treibstoff ab oder ließ es von Gasmotoren verstromen. Doch insgesamt hat es über 100 Jahre gedauert, bis wieder Fische in der Wupper gesehen wurden. Ähnliches berichten
Ruhrverband,
Emschergenossenschaft / Lippeverband, die
Arbeitsgemeinschaft Rhein-Wasserwerke als Teil eines nationalen und internationalen Rhein-Netzwerks.
The Daily Star aus Bangladesch interviewte 2016 den emeritierten Professor und Spezialisten für Wasserressourcen und Klimawandel, Ainun Nishat.
"I am often asked if the water quality of Buriganga can be restored. (...) One hundred years ago, the condition of River Tames or the Clyde or the Rhine was as bad as the condition of the Buriganga today. But through proper enforcement of the law, it was possible to clean the effluents and bring the rivers to normal condition."" - sinngemäß: Ich werde oft gefragt, ob die Wasserqualität des Buriganga wiederhergestellt werden kann. Vor hundert Jahren war der Zustand der Themse, des Clyde oder des Rheins so schlecht wie der Zustand des Buriganga heute. Aber als Gesetze richtig angewendet wurden, war es möglich, die Abwässer zu reinigen und die Flüsse in normalen Zustand zu bringen.
Ein Ziel der Chemiewende ist, dass bestimmte Abwässer gar nicht erst entstehen.